Armutsrisiken
Risiken, die zu Armut führen
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt und verfügt über ein umfangreiches soziales Netz. Trotzdem ist jede*r Fünfte von Armut bedroht. Das heißt: diese Menschen leben in Haushalten, denen weniger als 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens zur Verfügung stehen. Es gibt bestimmte Risikofaktoren, nach denen Menschen schneller unverschuldet in Armut geraten. Nachstehend aktuelle Zahlen und Fakten zur Armutsbedrohung in Deutschland.
Risikofaktor „allein erziehen“
Arm trotz Arbeit? Für viele allein Erziehende und deren Familien leider bittere Realität. Alleinerziehende Elternteile und ihre Kinder sind in Deutschland besonders häufig von Armut betroffen: 42,7 Prozent der Alleinerziehenden und ihrer Kinder lebten 2019 laut der letzten kleinen Bevölkerungsbefragung des Statistischen Bundesamts in Deutschland in relativer Armut. Relative Armut bedeutet, dass diese Haushalte weniger als 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens zur Verfügung haben. Alleinerziehende Familien sind damit vier- bis fünfmal häufiger von Armut betroffen als Paarfamilien, in denen Mieten, Kredite und laufende Ausgaben meist durch zwei Gehälter beglichen werden können.
In der Bewältigung von Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und Haushaltsführung sind alleinerziehende Mütter besonders belastet. Sie gehen häufiger und länger einer Lohnarbeit nach als Mütter in Paarfamilien, obwohl sie meist den Großteil der Verantwortung für die Sorgearbeit innehaben. 2018 waren beispielsweise 71 Prozent der alleinerziehenden Mütter und 68 Prozent der Mütter aus Paarfamilien erwerbstätig, 24 Prozent der alleinerziehenden Mütter ging einer Vollzeitbeschäftigung nach, 16 Prozent der Mütter in Paarfamilien arbeitete in Vollzeit.
Quelle:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familie heute. Daten. Fakten. Trends. Familienreport 2020
Risikofaktor „Diskriminierung/Ableismus“
Das Armutsrisiko "Ableismus" bedeuted die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten und damit zusammenhängend: die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Menschen mit Behinderungen sind mit unterschiedlichen Abwertungen und Barrieren konfrontiert, die sie an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. In der Folge sind sie besonders häufig von Armut und Exklusion betroffen.
Strukturelle Barrieren im Bildungssystem verhindern beispielsweise höhere Bildungsabschlüsse für Menschen mit Behinderungen. Auch ihre berufliche (Wieder-)Eingliederung wird erschwert. So ist das Risiko, langzeitarbeitslos zu werden bzw. zu bleiben für Menschen mit Behinderungen besonders hoch: Bei Menschen mit Schwerbehinderungen dauert Arbeitslosigkeit im Schnitt 51 Wochen, bei Personen ohne Schwerbehinderungen dagegen 37 Wochen. Menschen mit Beeinträchtigungen können zudem häufiger (43 Prozent) als Menschen ohne Beeinträchtigungen (28 Prozent) kein Geld sparen oder zurücklegen. Damit fehlen ihnen Rücklagen für Notfälle, unvorhergesehene Ausgaben oder das Alter.
Quellen
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales: 6. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 227
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales: 3. Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, S. 280
Risikofaktor „Klassismus“
Klassismus als Diskriminierungskategorie weist darauf hin, dass Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen sozioökonomischen Status einerseits unterschiedliche Chancen für ökonomische, soziale oder politische Teilhabe haben und ihnen andererseits ein unterschiedlicher Wert zugesprochen wird. Arbeiter*innen mit geringer formaler Qualifizierung, prekär Beschäftigte, Langzeitarbeitslose oder Obdachlose werden dabei häufig abgewertet und ausgegrenzt.
So wird zum Beispiel oft behauptet, dass arme Menschen dümmer oder fauler oder an ihrer Armut selbst schuld seien, womit sich gesellschaftliche und ökonomische Ungleichheit sowie die sozioökonomische Ausgrenzung armer Menschen scheinbar legitimieren lassen. Gleichzeitig werden Formen der kulturellen und strukturellen Diskriminierung und Chancenungleichheit verschleiert, zum Beispiel durch den sog. „Mobilitätsmythos“. Dieser behauptet, dass jede*r jederzeit ökonomisch und gesellschaftlich aufsteigen kann, wenn er*sie sich nur genug anstrengt und bereit ist Leistung zu erbringen. Tatsächlich weisen Studien aber auf eine große Stabilität von Klassenzugehörigkeit hin. Schulischer und beruflicher Erfolg hängen stark von der sozialen Herkunft und den verfügbaren materiellen und immateriellen Ressourcen in der Herkunftsfamilie ab.
Betrachtet man den elterlichen Bildungsstand, dann hatten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2019 in Deutschland über 67 Prozent aller Schüler(innen) auf einem Gymnasium mindestens ein Elternteil mit (Fach-)Hochschulreife (Abitur), aber nur knapp sechs Prozent stammten aus Haushalten, in denen der Hauptschulabschluss der höchste Bildungsabschluss ist .
Risikofaktor: Gender/Altersarmut
Frauen haben in Deutschland oft weniger Rente als Männer. 275 Euro macht der Unterschied im Durchschnitt aus. Manche Frauen haben sogar trotz jahrelanger Familienarbeit keinen Rentenanspruch. So wie Beate U. (Name geändert).
Beate U. lebt seit 20 Jahren getrennt von ihrem mittellosen Ehemann und ist Mutter eines erwachsenen Sohnes. Die 72-Jährige war in der Familie für die Familienarbeit zuständig und machte sich nach der gescheiterten Beziehung als Taxifahrerin selbstständig. Spätestens durch die Pandemie brachen die Einnahmen völlig ein, die wenigen Ersparnisse waren aufgebraucht, Rechnungen aus Zeiten der Selbstständigkeit häuften sich. Der mit Scham besetzte Gang zum Sozialamt war die Folge. Beate U. muss jetzt mit monatlich 446 Euro über die Runden kommen. Das Auto wird wegen der dörflichen Struktur dringend benötigt, so dass Kosten für die KFZ-Unterhaltung unumgänglich sind. Notwendige Medikamente werden nicht durch die Krankenkasse erstattet und müssen von Beate U. selbst getragen werden. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Den Gang zur Tafel lehnte sie ab, zu groß sei die Gefahr „erkannt zu werden“. Wenn der erwachsene Sohn nicht hin und wieder aushelfen würde, käme Beate U. mit dem Geld überhaupt nicht über die Runden. Die gesundheitlichen Probleme haben sich in den letzten Monaten deutlich verschlechtert. Hinzu kommen Schlafprobleme und depressive Gedanken. Mittlerweile bekommt Beate U. Hilfe von den Berater*innen eines Diakonischen Werks in der Diakonie Hessen.
Risikofaktor Gewalt
2.798 Frauen mussten 2018 in Hessen wegen Platzmangels der Frauenhäuser abgewiesen werden. Einer der Gründe ist, dass Frauen - einmal im Frauenhaus aufgenommen - viel zu lange dort wohnen müssen, da sie - mittellos und ohne Arbeit - oft keine Wohnungen finden. So bleiben die schutzsuchenden Frauen über Monate im Frauenhaus, teilweise bis zu zwei Jahren. Damit „besetzen“ sie dringend benötigte Plätze für Frauen, die in akuten Krisensituationen sind. Aus diesem Grund muss vielen Frauen abgesagt werden. In der Regel werden sie weiter Gewalt erfahren. Im schlimmsten aller Fälle kann die Absage eines Frauenhauses einer Frau das Leben kosten.
Hilfe in einem Frauenhaus hat auch Doris M. gesucht (Name geändert). Nach dreizehn Jahren Ehe hat sie sich von ihrem Mann getrennt und ist mit einem neuen Partner zusammengekommen, der gewalttätig war. Aus diesem Grund durfte sie ihren Sohn nicht mehr sehen. Zunächst war das Frauenhaus ein willkommener Rückzugsort. Im Laufe der Tage und Wochen im Frauenhaus wurde es für Doris M. immer schlimmer. Sie wollte wieder ihr eigenes Zuhause haben.
Doris M. schaut jeden Tag in den Portalen nach einer Wohnung. Von der Stadt bzw. dem Rathaus erwartet sie mehr Unterstützung. Leider erlebt sie das Gegenteil: Nur weil sie mit einem Brief aus dem Frauenhaus käme, solle sie nicht glauben, schneller eine Wohnung zu bekommen, hieß es. Sie erlebt sich als Außenseiterin der Gesellschaft, weil sie nicht mehr so im Leben steht, wie es vorher mal war.
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